Donnerstag, 23. Mai 2013

1.2 Und privat sah es so aus



Und privat sah es so aus:

Vierzehn Jahre von Montag bis Freitag auf Achse. Bahn­höfe, Flugplätze, Leihwagen. Manchmal fragte ich mich, ob ein Job am Wohnort nicht die bessere Lösung wäre. Es gab mehrere Möglichkeiten, aber ich hatte sie nicht ergriffen. Bei allem Stress und extrem langen Ar­beitstagen „liebte“ ich meinen Job, oder redete es mir jedenfalls ein.

Eigentlich war das Reiseleben eine Flucht. Denn die Krank­heit meiner Frau und die damit verbundenen Probleme wa­ren eine schwere Bürde.


"Du hast den Kopf in den Sand gesteckt und Dich hinter Deinem Job versteckt". "He, wer bist Du?". "Ich bin Dein Alter Ego". "Was willst Du von mir?". "Aufpassen, Du tendierst dazu alles schön zu färben!".


Es begann mit einem Telefonat. Ich arbeitete 1989 bei ei­nem Kunden in Berlin. Meine Sekretärin kam in unsere Morgenbesprechung und sagte ich solle drin­gend unseren Hausarzt in Hamburg anrufen. Dr. R. er­zählte mir, er hätte nachts um drei Uhr einen Anruf meiner Frau erhalten. Sie klagte über unerträgliche Kopfschmerzen. Er fuhr sofort zu unserer Wohnung. Sein erster Eindruck veranlasste ihn, El­len umgehend in die Hamburger Uniklinik zu fahren. Ver­dacht auf Aneurysma.

Ich solle umgehend nach Hamburg kommen.

Der nächste Pan-Am-Flug war ausgebucht, aber nach Schilderung des Notfalls wurde ich mitgenom­men. In der Uniklinik nannte man mir die Station, und ich bin gleich in Ellens Zimmer. Es war abgedunkelt und sie schlief. Ich frag­te die Stationsschwester, was nun geschehe. Sie sagte, man hätte Ellen erstmals ein Beruhigungsmittel verabreicht und der Professor wür­de später nach Ellen schauen.

Sofort rief ich unseren Hausarzt an und schilderte ihm die Lage. Er war entsetzt, da er bei der Einliefe­rung auf den Verdacht einer Hirnblutung hingewiesen hatte. Er würde so­fort in der Klinik anrufen und eine Verlegung in die Neuro­chirurgie verlangen.

Es dauerte kaum 10 Minuten und es erschienen eini­ge Krankenpfleger und holten meine Frau ab. Sie wur­de in die Neurochirurgie verlegt, und man versprach, mich umgehend zu informieren.

Zu Hause saß ich vor dem Telefon und rührte mich nicht von der Stelle. Unsere beiden Katzen hatten mei­ne Anspan­nung wohl gemerkt und lagen links und rechts von mir auf der Couch. Ich hatte Angst vor dem Anruf. Als er endlich kam, sagte mir der Oberarzt man müsse sofort operieren. Nach der Operation würde man sofort bei mir anrufen.

Das Warten wurde geradezu unerträglich. Ich informiert­e meine Familie und einige Freunde und bat sie nicht zurückzurufen. Die Leitung müsse unbedingt frei bleiben.

Nach sieben Stunden erhielt ich den ersehnten An­ruf aus dem Krankenhaus. Die Operation sei gut ver­laufen und ich solle zu einem Gespräch zum Oberarzt kommen.

Ich ließ das Auto stehen und rief ein Taxi. In dem Zu­stand wäre ich nicht in der Lage gewesen, mich auf den Ver­kehr zu konzentrieren.

Das Gespräch mit dem Oberarzt sorgte nicht zur Beruhig­ung meiner Flatternerven. Er erklärte mir: Die Aussichten auf eine vollständige Genesung seien sehr gering. Es könne sein, das Ellen nach dem Eingriff zum Pflegefall würde. Ei­nige andere Symptome wurden auch noch erläutert und ich hatte den Wunsch mich ir­gendwo zu verkriechen.
"Kann ich zwar verstehen, aber Du solltest wissen, dass das keine Lösung ist". Mein Alter Ego wird mich noch im den Wahnsinn treiben.

Der Chirurg rief mich später erneut an und sagte El­len wäre kurz aufgewacht und ich solle bitte vorbei­kommen. „Haben Sie einen Bauernhof?“ war die erste Frage. „Wie kommen Sie darauf?“ „Als ich nach Ihrer Frau schaute, öff­nete sie ihre Augen und fragte: Wer kümmert sich um die Kühe?“

Merkwürdige Geschichte. Wir gingen in Ellens Zim­mer.
Sie war wach und ich werde die ersten Worte nie vergessen: „Dich kann man nicht alleine Einkaufen schicken. Wer hat Dir diesen fürchterlichen Kittel ver­kauft?“ Der Oberarzt nahm meine Hand und meinte: „Sie kommt durch!“ Nach dieser seltsamen Begrüßung schlief Ellen wieder ein.

Als ich die Geschichte dem Produktionsleiter Jens Köster erzählte, wurde das Rätsel gelöst. „Wir hatten bei den ge­planten Dreharbeiten Ärger mit einem Bau­ern. Er fürchtete seine trächtigen Kühe würden gestört. Ellen wollte am nächsten Tag mit ihm sprechen.

Ellen blieb für die nächsten vier Wochen auf der Intens­ivstation. Trotz der guten Prognose blieb der Ein­druck der Monitore, Kabelstränge und Anzahl sich tropfenweise ent­leerender Infusionsflaschen deprimie­rend. Bei meinen Besu­chen konnte ich den Blick nicht von den Diagrammen und mehrfarbigen Zahlen wen­den. Warum ging diese Kurve plötzlich abrupt nach unten? Mehrfach rief ich nach den Schwestern, wurde aber stets beruhigt. Es würde keine Ge­fahr bestehen.

Ellen erzählte mir später, sie hätte meine Stimme immer gehört und das Streichen über den Kopfver­band hätte sie be­ruhigt.

Meine Mutter hielt die Stellung in Hamburg. Ich fand großes Entgegenkommen bei meinem Kunden und konnte die Anwesenheit in Berlin reduzieren. An­flug, Meetings, Abflug und Besuch in der Uniklinik wurde zur Routine. Nach sechs Wochen auf der Inten­sivstation wurde Ellen auf eine Station in der Neuro­chirurgie verlegt. Ihr Orientie­rungssinn war anschei­nend in Mitleidenschaft geraten. Sie fand häufig ihr Zimmer nicht mehr. Das Kurzzeitgedächtnis war stark beeinträchtigt. Sie freute sich über meine Besuche, schi­en sich aber über ihren Aufenthaltsort nicht klar zu sein.

Ellen wurde gesucht

Ich erhielt einen Anruf aus der Klinik. Ellen war auf dem Weg zur Röntgenstation spurlos verschwunden. Sofort fuhr ich zum Flughafen und flog mit der nächs­ten Maschine nach Hamburg. In der Klinik herrschte große Aufregung.

Polizei wurde inzwischen eingeschaltet und eine
Suchaktion gestartet. Die Polizisten baten um ein Foto von Ellen. Ich hatte Schwierigkeiten, da Ellen auf fast allen Fotos nur von hinten zu sehen war. Sie hasste es, fotografiert zu werden. Letztendlich fand ich eine Aufnahme vom letzten Skiurlaub in Braunlage. 

Große Sorge bereitete die Tatsache, dass Ellen ihre Hand­tasche bei sich hatte. Mit EC- und Kreditkarten. Der Flug­platz wurde sofort informiert. Die Polizei be­fürchtete, sie könne in ihrer Verwirrtheit irgendwohin fliegen. Das war sie ja durch ihre Tätigkeit gewohnt.

Inzwischen waren alle Arbeitskollegen und Freunde mit ihren Autos unterwegs und suchten in Hamburg Orte ab, an denen sich Ellen möglicherweise aufhalten könnte. Ich fuhr in unsere Wohnung und koordinierte die Suche.

Am späten Abend klingelte es an der Haustür. Ellen war zurück. Sie war durchgefroren und bat um einen Kaffee. Ich informierte umgehend die Polizei und die Klinik.

Zwei Polizeibeamte erschienen um Ellens Anwesen­heit zu überprüfen. Ein Arzt vom UKE kam zu einer Untersu­chung und erlaubte Ellen eine Nacht Zuhause zu bleiben. Sie fand die ganze Situation äußerst anre­gend und lud alle Anwesenden zu einem Kaffee ein. Sie konnte sich an nichts erinnern, aber als sie bei ihrer „Wanderung“ unser Haus sah, klingelte sie.

Später konnte ich ihren Weg rekonstruieren. Sie war vom UKE zunächst ziellos herumgelaufen und fand schließlich Eimsbüttel.

In diversen Restaurants hatte sie Gäste angespro­chen und gefragt, ob sie als Komparsen an der laufen­den TV-Pro­duktion mitmachen würden.

Ellen musste am nächsten Tag zurück in die Klinik. Nach einigen Wochen wurde sie mit einem Kranken­wagen nach Bad Soden/Allendorf gebracht.

Bei meinem ersten Besuch dort begrüßte sie mich mit ei­nem strahlenden Lächeln: "Wohnst Du auch hier im Hotel? Mutti hat ein Zimmer auf meiner Etage."

Ich war perplex und verzweifelt. Sofort suchte ich den zuständigen Arzt auf und erfuhr, dass durch die Operations­folgen ein Überdruck im Gehirn entstanden sei. Ellen müsse zu einer Folgeoperation zurück nach Hamburg. Eine Art Ventil sollte eingebaut werden.

Meine Frage, ob dadurch eine Besserung erzielt würde, wurde lapidar beantwortet: „Das wollen wir doch hoffen."

Eine 2. Operation war erforderlich

Die zweite Operation verlief problemlos. Die Verwirrung­en schienen abzunehmen. Sie hatte sich total verändert. Früher die reizbare Arbeitsbiene im Dauer­einsatz war sie nun stets gut gelaunt und begann die Mitpatienten zu un­terhalten.

Eine weitere Kur wurde angemeldet und wenige Tage vor Weihnachten sollte sie nach Zwesten verlegt werden. Ich rief dort an und fragte, ob man den Termin nicht auf Anfang Ja­nuar verlegen könne. Das sei nicht möglich, war die Ant­wort. Wieder wurde ein Kranken­wagen eingesetzt. Ihre Schwester in Göttingen bot an, sich Weihnachten um Ellen zu kümmern. Zu meiner Überraschung erfuhr ich, Hilde durfte Ellen für die Weihnachtstage mit nach Göttingen nehmen. Drei Tage vor den Festtagen musste sie unbedingt in der Kuran­lage erscheinen und nun so etwas!"

In der ersten Januarwoche besuchte ich Ellen in Zwesten. Nach der Begrüßung fragte ich nach dem Ta­gesplan. Nach anfänglichen Untersuchungen hatte sie täglich eine Stunde Korbflechten. Korbflechten! Ich verlangte sofort einen Ter­min bei der Stationsärztin. Mein Weltbild kam ins Wanken.

Die Dame erklärte mir: „Wegen der Feiertage hätte man nicht genügend Personal für gezielte Maßnah­men, und sie hätte daher eine einwöchige Verlänge­rung der Kur bean­tragt.“ Mir verschlug es die Sprache. Das war die reinste Abzockerei!

                     Erkenntnis: Das Gesundheitswesen war und ist marode!

Nach Ellens Rückkehr von der Kur zog meine Mut­ter zu uns. Die Verwandlung meiner Frau war bemer­kenswert. Von der Powerfrau mit stets vollem Termin­kalender war nichts mehr zu erkennen. Sie liebte das Leben. Ich wurde an den Wochenenden von vielen Leuten auf der Straße ange­sprochen: „Hallo, wie geht es Ihrer Frau?“ Bald begriff ich, dass Ellen mit jedem menschlichen Wesen kommunizierte. Immer wenn sie auf einen Einkaufsbummel ging, sprach sie alle Men­schen freundlich lächelnd an.

Besonders ältere Leute waren total von ihr angetan. Sie trug deren Einkäufe, machte Besorgungen und hör­te ihnen einfach zu.

Erkenntnis: Zuhören will gelernt sein!
Der Leiter eines Altenheims in Hamburg erzählte mir später, Ellen würde häufig vorbeikommen und mit den Be­wohnern Bastelstunden veranstalten. Die alten Leute wären begeistert.

An den Wochenenden praktizierten wir stunden­lang Ge­hirnjogging. Mir war aufgefallen, dass ihr Kurzzeitgedächt­nis stark nachgelassen hatte. Auch der Orientierungssinn war beeinträchtigt. Ereignisse vor ihrer Operation waren je­doch präsent. Alle Telefon­nummern, Anschriften und Na­men waren gespeichert. Die Beeinträchtigung des Kurzzeit­gedächtnisses fiel besonders auf. „Ich gehe eben Senf holen“ führte zum Beispiel zu einem einstündigen Ausflug.

Nach der Rückkehr wurden diverse Dinge ausgepackt. Mei­ne Frage: „Wo ist der Senf?“ , führte zur Gegenfra­ge: „Wel­cher Senf?“ Von nun an musste ein Einkaufzet­tel genutzt werden, und vor meinem Abflug am Mon­tag erstellte ich ei­ne Übersicht mit allen Terminen und wichtigen Besorgun­gen.

Ihr Hausarzt bestellte sie wöchentlich ein. Mir fiel bei Durchsicht der Liquidationen auf, dass tägliche GOÄ-Posi­tionen, wie zum Beispiel „Telefonische Bera­tung“ aufgeführt wurden. Auch erschienen häufig Be­handlungspositionen mit gleichem Datum auf unter­schiedlichen Rechnungen. Beson­ders teuer waren die Laborabrechnungen. Hier gab es min­destens alle 14 Tage zwei unterschiedliche Liquidationen.

Als ich den Arzt um Aufklärung bat, schob er die doppel­te Abrechnung zunächst auf sein Personal und sagte: „Ihre Krankenversicherung erstattet doch. Ich verstehe Ihre Aufre­gung nicht.“ Er war an einer Labor­gemeinschaft beteiligt und sorgte durch die Laborana­lysen für genügend Umsatz!

Ich konnte meine Tätigkeit in Berlin wieder Vollzeit auf­nehmen. Meine Mutter übersiedelte nach Hamburg und kümmerte sich um Ellen.

Meine Tage waren mit den Reisen und Aufgaben beim Kunden ausgefüllt. Freitags holte mich Ellen ent­weder vom Bahnhof oder Flugplatz ab. Ihr Orientie­rungssinn war wie­derhergestellt, und sie machte nun häufig Streifzüge durch Hamburg und Umgebung.

Die Kinder meiner Nichte Heide verbrachten oft ihre Fe­rien bei uns, und Ellen machte viele Ausflüge mit ihnen. Als Ellen starb, wurde es von den in inzwi­schen Erwachsenden ohne Reaktion hingenommen.

Ich musste an einen Spruch von Ellen denken, über den wir oft gelacht hatten:
„Begibt man sich in Familie, kommt man oft dabei um“

Er bezog sich eigentlich auf die fast täglichen Anru­fe ih­rer Mutter, die immer auf baldigen Besuch dräng­te.

Große Unterstützung in der angespannten Zeit er­fuhr ich auch durch meine Schwester Edith und ihren Mann Kar­l-Heinz. Sie haben Haushüter während meiner Abwesenheit „gespielt“ und mich sehr entlastet.











Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen