Und privat sah es so aus:
Vierzehn Jahre von Montag bis Freitag auf Achse. Bahnhöfe, Flugplätze, Leihwagen. Manchmal fragte ich mich, ob ein Job am Wohnort nicht die bessere Lösung wäre. Es gab mehrere Möglichkeiten, aber ich hatte sie nicht ergriffen. Bei allem Stress und extrem langen Arbeitstagen „liebte“ ich meinen Job, oder redete es mir jedenfalls ein.Eigentlich war das Reiseleben eine Flucht. Denn die Krankheit meiner Frau und die damit verbundenen Probleme waren eine schwere Bürde.
"Du hast den Kopf in den Sand gesteckt und Dich hinter Deinem Job versteckt". "He, wer bist Du?". "Ich bin Dein Alter Ego". "Was willst Du von mir?". "Aufpassen, Du tendierst dazu alles schön zu färben!".
Es begann mit einem Telefonat. Ich arbeitete 1989 bei
einem Kunden in Berlin. Meine Sekretärin kam in unsere Morgenbesprechung und
sagte ich solle dringend unseren Hausarzt in Hamburg anrufen. Dr. R. erzählte
mir, er hätte nachts um drei Uhr einen Anruf meiner Frau erhalten. Sie klagte
über unerträgliche Kopfschmerzen. Er fuhr sofort zu unserer Wohnung. Sein
erster Eindruck veranlasste ihn, Ellen umgehend in die Hamburger Uniklinik zu
fahren. Verdacht auf Aneurysma.
Ich solle umgehend nach Hamburg kommen.
Der nächste Pan-Am-Flug war ausgebucht, aber nach
Schilderung des Notfalls wurde ich mitgenommen. In der Uniklinik nannte man
mir die Station, und ich bin gleich in Ellens Zimmer. Es war abgedunkelt und
sie schlief. Ich fragte die Stationsschwester, was nun geschehe. Sie sagte,
man hätte Ellen erstmals ein Beruhigungsmittel verabreicht und der Professor
würde später nach Ellen schauen.
Sofort rief ich unseren Hausarzt an und schilderte ihm
die Lage. Er war entsetzt, da er bei der Einlieferung auf den Verdacht einer
Hirnblutung hingewiesen hatte. Er würde sofort in der Klinik anrufen und eine
Verlegung in die Neurochirurgie verlangen.
Es dauerte kaum 10 Minuten und es erschienen einige
Krankenpfleger und holten meine Frau ab. Sie wurde in die Neurochirurgie
verlegt, und man versprach, mich umgehend zu informieren.
Zu Hause saß ich vor dem Telefon und rührte mich nicht
von der Stelle. Unsere beiden Katzen hatten meine Anspannung wohl gemerkt und
lagen links und rechts von mir auf der Couch. Ich hatte Angst vor dem Anruf.
Als er endlich kam, sagte mir der Oberarzt man müsse sofort operieren. Nach der
Operation würde man sofort bei mir anrufen.
Das Warten wurde geradezu unerträglich. Ich informierte
meine Familie und einige Freunde und bat sie nicht zurückzurufen. Die Leitung
müsse unbedingt frei bleiben.
Nach sieben Stunden erhielt ich den ersehnten Anruf
aus dem Krankenhaus. Die Operation sei gut verlaufen und ich solle zu einem
Gespräch zum Oberarzt kommen.
Ich ließ das Auto stehen und rief ein Taxi. In dem Zustand
wäre ich nicht in der Lage gewesen, mich auf den Verkehr zu konzentrieren.
Das Gespräch mit dem Oberarzt sorgte nicht zur Beruhigung
meiner Flatternerven. Er erklärte mir: Die Aussichten auf eine vollständige
Genesung seien sehr gering. Es könne sein, das Ellen nach dem Eingriff zum
Pflegefall würde. Einige andere Symptome wurden auch noch erläutert und ich
hatte den Wunsch mich irgendwo zu verkriechen.
"Kann ich zwar verstehen, aber Du solltest wissen, dass das keine Lösung ist". Mein Alter Ego wird mich noch im den Wahnsinn treiben.
"Kann ich zwar verstehen, aber Du solltest wissen, dass das keine Lösung ist". Mein Alter Ego wird mich noch im den Wahnsinn treiben.
Der Chirurg rief mich später erneut an und sagte Ellen
wäre kurz aufgewacht und ich solle bitte vorbeikommen. „Haben Sie einen
Bauernhof?“ war die erste Frage. „Wie kommen Sie darauf?“ „Als ich nach Ihrer
Frau schaute, öffnete sie ihre Augen und fragte: Wer kümmert sich um die
Kühe?“
Sie war wach und ich werde die ersten Worte nie
vergessen: „Dich kann man nicht alleine Einkaufen schicken. Wer hat Dir diesen
fürchterlichen Kittel verkauft?“ Der Oberarzt nahm meine Hand und meinte: „Sie
kommt durch!“ Nach dieser seltsamen Begrüßung schlief Ellen wieder ein.
Als ich die Geschichte dem Produktionsleiter Jens
Köster erzählte, wurde das Rätsel gelöst. „Wir hatten bei den geplanten
Dreharbeiten Ärger mit einem Bauern. Er fürchtete seine trächtigen Kühe würden
gestört. Ellen wollte am nächsten Tag mit ihm sprechen.
Ellen blieb für die nächsten vier Wochen auf der
Intensivstation. Trotz der guten Prognose blieb der Eindruck der Monitore,
Kabelstränge und Anzahl sich tropfenweise entleerender Infusionsflaschen
deprimierend. Bei meinen Besuchen konnte ich den Blick nicht von den
Diagrammen und mehrfarbigen Zahlen wenden. Warum ging diese Kurve plötzlich
abrupt nach unten? Mehrfach rief ich nach den Schwestern, wurde aber stets
beruhigt. Es würde keine Gefahr bestehen.
Ellen erzählte mir später, sie hätte meine Stimme
immer gehört und das Streichen über den Kopfverband hätte sie beruhigt.
Meine Mutter hielt die Stellung in Hamburg. Ich fand
großes Entgegenkommen bei meinem Kunden und konnte die Anwesenheit in Berlin
reduzieren. Anflug, Meetings, Abflug und Besuch in der Uniklinik wurde zur
Routine. Nach sechs Wochen auf der Intensivstation wurde Ellen auf eine
Station in der Neurochirurgie verlegt. Ihr Orientierungssinn war anscheinend
in Mitleidenschaft geraten. Sie fand häufig ihr Zimmer nicht mehr. Das
Kurzzeitgedächtnis war stark beeinträchtigt. Sie freute sich über meine
Besuche, schien sich aber über ihren Aufenthaltsort nicht klar zu sein.
Ellen wurde gesucht
Ich erhielt einen Anruf aus der Klinik. Ellen war auf
dem Weg zur Röntgenstation spurlos verschwunden. Sofort fuhr ich zum Flughafen
und flog mit der nächsten Maschine nach Hamburg. In der Klinik herrschte große
Aufregung.
Polizei wurde inzwischen eingeschaltet und eine
Suchaktion gestartet. Die Polizisten baten um ein Foto
von Ellen. Ich hatte Schwierigkeiten, da Ellen auf fast allen Fotos nur von
hinten zu sehen war. Sie hasste es, fotografiert zu werden. Letztendlich fand
ich eine Aufnahme vom letzten Skiurlaub in Braunlage.
Große Sorge bereitete die Tatsache, dass Ellen ihre
Handtasche bei sich hatte. Mit EC- und Kreditkarten. Der Flugplatz wurde
sofort informiert. Die Polizei befürchtete, sie könne in ihrer Verwirrtheit
irgendwohin fliegen. Das war sie ja durch ihre Tätigkeit gewohnt.
Inzwischen waren alle Arbeitskollegen und Freunde mit
ihren Autos unterwegs und suchten in Hamburg Orte ab, an denen sich Ellen
möglicherweise aufhalten könnte. Ich fuhr in unsere Wohnung und koordinierte
die Suche.
Am späten Abend klingelte es an der Haustür. Ellen war
zurück. Sie war durchgefroren und bat um einen Kaffee. Ich informierte umgehend
die Polizei und die Klinik.
Zwei Polizeibeamte erschienen um Ellens Anwesenheit
zu überprüfen. Ein Arzt vom UKE kam zu einer Untersuchung und erlaubte Ellen
eine Nacht Zuhause zu bleiben. Sie fand die ganze Situation äußerst anregend
und lud alle Anwesenden zu einem Kaffee ein. Sie konnte sich an nichts
erinnern, aber als sie bei ihrer „Wanderung“ unser Haus sah, klingelte sie.
Später konnte ich ihren Weg rekonstruieren. Sie war vom
UKE zunächst ziellos herumgelaufen und fand schließlich Eimsbüttel.
In diversen Restaurants hatte sie Gäste angesprochen
und gefragt, ob sie als Komparsen an der laufenden TV-Produktion mitmachen
würden.
Ellen musste am nächsten Tag zurück in die Klinik.
Nach einigen Wochen wurde sie mit einem Krankenwagen nach Bad Soden/Allendorf
gebracht.
Bei meinem ersten Besuch dort begrüßte sie mich mit einem
strahlenden Lächeln: "Wohnst Du auch hier im Hotel? Mutti hat ein Zimmer
auf meiner Etage."
Ich war perplex und verzweifelt. Sofort suchte ich den
zuständigen Arzt auf und erfuhr, dass durch die Operationsfolgen ein Überdruck
im Gehirn entstanden sei. Ellen müsse zu einer Folgeoperation zurück nach
Hamburg. Eine Art Ventil sollte eingebaut werden.
Meine Frage, ob dadurch eine Besserung erzielt würde,
wurde lapidar beantwortet: „Das wollen wir doch hoffen."
Eine 2. Operation war erforderlich
Die zweite Operation verlief problemlos. Die
Verwirrungen schienen abzunehmen. Sie hatte sich total verändert. Früher die
reizbare Arbeitsbiene im Dauereinsatz war sie nun stets gut gelaunt und begann
die Mitpatienten zu unterhalten.
Eine weitere Kur wurde angemeldet und wenige Tage vor
Weihnachten sollte sie nach Zwesten verlegt werden. Ich rief dort an und fragte,
ob man den Termin nicht auf Anfang Januar verlegen könne. Das sei nicht
möglich, war die Antwort. Wieder wurde ein Krankenwagen eingesetzt. Ihre
Schwester in Göttingen bot an, sich Weihnachten um Ellen zu kümmern. Zu meiner
Überraschung erfuhr ich, Hilde durfte Ellen für die Weihnachtstage mit nach
Göttingen nehmen. Drei Tage vor den Festtagen musste sie unbedingt in der Kuranlage
erscheinen und nun so etwas!"
In der ersten Januarwoche besuchte ich Ellen in
Zwesten. Nach der Begrüßung fragte ich nach dem Tagesplan. Nach anfänglichen
Untersuchungen hatte sie täglich eine Stunde Korbflechten. Korbflechten! Ich
verlangte sofort einen Termin bei der Stationsärztin. Mein Weltbild kam ins
Wanken.
Die Dame erklärte mir: „Wegen der Feiertage hätte man
nicht genügend Personal für gezielte Maßnahmen, und sie hätte daher eine
einwöchige Verlängerung der Kur beantragt.“ Mir verschlug es die Sprache. Das
war die reinste Abzockerei!
Erkenntnis: Das Gesundheitswesen war und ist marode!
Nach Ellens Rückkehr von der Kur zog meine Mutter zu
uns. Die Verwandlung meiner Frau war bemerkenswert. Von der Powerfrau mit
stets vollem Terminkalender war nichts mehr zu erkennen. Sie liebte das Leben.
Ich wurde an den Wochenenden von vielen Leuten auf der Straße angesprochen:
„Hallo, wie geht es Ihrer Frau?“ Bald begriff ich, dass Ellen mit jedem
menschlichen Wesen kommunizierte. Immer wenn sie auf einen Einkaufsbummel ging,
sprach sie alle Menschen freundlich lächelnd an.
Besonders ältere Leute waren total von ihr angetan.
Sie trug deren Einkäufe, machte Besorgungen und hörte ihnen einfach zu.
Erkenntnis: Zuhören will gelernt sein!
Der Leiter eines Altenheims in Hamburg erzählte mir
später, Ellen würde häufig vorbeikommen und mit den Bewohnern Bastelstunden veranstalten.
Die alten Leute wären begeistert.
An den Wochenenden praktizierten wir stundenlang Gehirnjogging.
Mir war aufgefallen, dass ihr Kurzzeitgedächtnis stark nachgelassen hatte.
Auch der Orientierungssinn war beeinträchtigt. Ereignisse vor ihrer Operation
waren jedoch präsent. Alle Telefonnummern, Anschriften und Namen waren
gespeichert. Die Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses fiel besonders
auf. „Ich gehe eben Senf holen“ führte zum Beispiel zu einem einstündigen
Ausflug.
Nach der Rückkehr wurden diverse Dinge ausgepackt. Meine Frage: „Wo ist der Senf?“ , führte zur Gegenfrage: „Welcher Senf?“ Von nun an musste ein Einkaufzettel genutzt werden, und vor meinem Abflug am Montag erstellte ich eine Übersicht mit allen Terminen und wichtigen Besorgungen.
Ihr Hausarzt bestellte sie wöchentlich ein. Mir fiel
bei Durchsicht der Liquidationen auf, dass tägliche GOÄ-Positionen, wie zum
Beispiel „Telefonische Beratung“ aufgeführt wurden. Auch erschienen häufig Behandlungspositionen
mit gleichem Datum auf unterschiedlichen Rechnungen. Besonders teuer waren
die Laborabrechnungen. Hier gab es mindestens alle 14 Tage zwei
unterschiedliche Liquidationen.
Als ich den Arzt um Aufklärung bat, schob er die
doppelte Abrechnung zunächst auf sein Personal und sagte: „Ihre
Krankenversicherung erstattet doch. Ich verstehe Ihre Aufregung nicht.“ Er war
an einer Laborgemeinschaft beteiligt und sorgte durch die Laboranalysen für
genügend Umsatz!
Ich konnte meine Tätigkeit in Berlin wieder Vollzeit
aufnehmen. Meine Mutter übersiedelte nach Hamburg und kümmerte sich um Ellen.
Meine Tage waren mit den Reisen und Aufgaben beim
Kunden ausgefüllt. Freitags holte mich Ellen entweder vom Bahnhof oder
Flugplatz ab. Ihr Orientierungssinn war wiederhergestellt, und sie machte nun
häufig Streifzüge durch Hamburg und Umgebung.
Die Kinder meiner Nichte Heide verbrachten oft ihre Ferien
bei uns, und Ellen machte viele Ausflüge mit ihnen. Als Ellen starb, wurde es
von den in inzwischen Erwachsenden ohne Reaktion hingenommen.
Ich musste an einen Spruch von Ellen denken, über den
wir oft gelacht hatten:
„Begibt man sich in Familie, kommt man oft dabei um“
Er bezog sich eigentlich auf die fast täglichen Anrufe
ihrer Mutter, die immer auf baldigen Besuch drängte.
Große Unterstützung in der angespannten Zeit erfuhr
ich auch durch meine Schwester Edith und ihren Mann Karl-Heinz. Sie haben
Haushüter während meiner Abwesenheit „gespielt“ und mich sehr entlastet.
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